
A 4. INSUBRISCHE LINIE
UND ERDVERSCHIEBUNGEN
Bitte lesen Sie die Aufsätze in ihrem Zusammenhang
(Alle Fußnoten finden Sie im Verzeichnis)
A 4.1 Die Cimetta, der Hausberg von Locarno
Ich kam auf die Cimetta, den Hausberg von Locarno, genoss oben auf dem Gipfel die einmalig schöne Aussicht über den Lago Maggiore und fand dort eine Tafel mit einem seltsamen Hinweis.


Diese Tafel besagt, dass sich am Fusse der Cimetta die beiden Kontinente (Afrika und Europa) aneinandergeschlossen haben und hier eine Naht gebildet wurde, die als Insubrische Linie oder Periadriatische Naht bezeichnet wird. Diese Berührungslinie der Kontinente ist 700 km lang. Die Kontinente sind 60 km aneinander vorbeigeschoben und haben einen vertikalen Versatz von 15 km!
Stellen Sie sich vor: Der Mont Blanc, der höchste Berg Europas hat eine Höhe von 4810 m, das heißt, dass der gemessene Versatz 3x die Höhe des Mont Blancs ist! Ich wollte wissen, wie die Messungen vorgenommen wurden. Lange fand ich darauf keine Antwort. Erst später fand ich in einem Buch den Schlüssel dazu.
A 4.2 Cima di Cugn - Insubrische Linie


1995 machte ich eine Landschaftsskizze von der Cima di Cugn nach Westen und bat einen Geologen, ob er mir die Insubrische Linie einzeichnete. Man sieht von hier keinen signifikanten Versatz im Gelände.
In seinem Buch "Die Geologie der Schweiz" berührt Toni Labhart² dieses Thema. Er gibt einem Kapitel den markanten Titel: "Die Gebirgsbildung – keine Katastrophe " und erklärt, dass man sich oft falsche Vorstellungen über die Dauer und die Geschwindigkeit der Faltung macht. Die Alpenfaltung war nie ein plötzliches, katastrophales Ereignis. Sie hat 100 Millionen Jahre gedauert! Die Bewegungsgeschwindigkeiten entsprachen denen, die wir auch heute messen.
Allzu oft werden in der Geologie Begriffe verwendet, die die Vorgänge in der Erdkruste völlig verzerrt wiedergeben. Eine "Kollision", ein "Zusammenstoßen" oder "Aufeinanderprallen", ein "Hereinschoppen" hat es nie gegeben. Nur wenn man diese Vorgänge im Zeitraffer zusammenzieht, gelangt man zu Vorstellungen, die aus Tatsachen höchstens einen unterhaltsamen Actionfilm machen, die aber mit der Wirklichkeit nichts mehr zu tun haben.
Dann löste mir Toni Labhart das Rätsel des Versatzes, als er in seinem Buch erzählt, dass jedes Gestein seine entsprechenden Bildungsbedingungen hat. Um die Bildungsbedingungen zu ermitteln, wird der sogenannte Geothermobarometer⁴) benutzt, mit dem wird die Temperatur und der Druck bei der Bildung von Gestein gemessen. Die Messergebnisse lassen den Rückschluss zu, dass die Gesteine und Mineralien des Nordtessins unter eine Überdeckung von 20 bis 25 km entstanden sind (auch wenn diese Überdeckung mehr als der obenerwähnte Versatz ist, kann in diesem Fall der 15 km Versatz gleichwohl stimmen)
A 4.3 Verschiebungen von Gesteinseinheiten (Decken) (Bild: das Panorama vom Gornergrat nach Westen)

Vor einigen Jahren las ich die Dissertation von Andreas Ebert ³ (April 2001). Diese Arbeit war für mich ein «Augenöffner». Ich hatte schon mal eine unvollständige Abhandlung über das Matterhorn gelesen, in der geschildert wird, wie das Matterhorn vom Afrikanischen Kontinent hinüber auf den Europäischen Kontinent geschoben wurde. Das klingt sensationell, aber es ist nur ein Teil der ganzen Wahrheit. Der Zufall wollte es, dass Andreas Ebert eine Skizze vom Gornergrat nach Westen zeigt und meine Aufnahmen vom Gornergrat nach Westen genau dasselbe Profil haben. Nach seiner Skizze konnte ich die Dent Blanche Decke auf meinem Panorama-Foto einzeichnen und mit dunkler Farbe einfärben (Bild oben). Nicht nur das Matterhorn kam vom afrikanischen Kontinent, die ganze Dent-Blanche-Decke ist afrikanischen Ursprungs. Über 30 km wurde sie "über" die Europäische Platte nach Norden geschoben! War das wirklich eine "Überschiebung" eines so gewaltigen Ausmasses! Nein! Das Wort "Überschiebung" erzeugt die irrtümliche Vorstellung, wie wenn sich dieser Vorgang auf der Erdoberfläche vollzogen hätte. Das Breithorn (siehe "Serpentinit Gornergrat") ist 4161 m. hoch. Er besteht aus Serpentinit. Damit dieser Serpentinit sich bilden konnte, brauchte es Bildungsbedingungen von 300°C bis 500°C und zusätzlich musste Wasser hinzutreten. Diese Bildung konnte sich also nur tief in der Erde vollziehen. Das heisst: Als die Kontinente sich aneinandergeschlossen hatten und afrikanisches Gestein wie auch Ozeanbodengestein hinüber auf das europäische Kontinent geschoben wurden, war das Breithorn als Gesteinsmasse kilometertief unter der Erdoberfläche! (Forscher der Uni Bern kamen zum Schluss, dass hier der Serpentinit bis 80 km tief abgesenkt wurde ⁶) Das Matterhorn ist 4478 m. hoch, also lediglich 317 m. höher als das Breithorn. Die Gesteinsmasse des Matterhorns befand sich (wie die ganze Dent Blanche Decke) kilometertief unter der Erdoberfläche. Das heisst: Die heutigen Viertausender waren zu jener Zeit von unvorstellbaren Gesteinsmassen überlagert und die Verschiebung geschah in vielen Kilometern Tiefe. Dann gab es zwei tiefgreifende Veränderungen:
Durch Erosion und Gletschertägigkeit wurden enorme Felsmassen abgetragen. Die heutigen Viertausender (auch das Matterhorn!) wurden "herausgearbeitet". Andreas Ebert schildert, dass sich eine Gesteinsschicht im Matterhorn-Nordwand wieder zu finden ist in der Südwand des Obergabelhorns. Diese Bergen waren - wie ein "Gesteinspaket" - alle miteinander verbunden, aber dort, wo diese Gesteinsschicht war, ist heute eine Talschaft! Unser Vorstellungsvermögen wird an Grenzen geführt, wenn man sich diese Vorgänge räumlich bildhaft vorstellen will. Als ich 1968 das Zinalrothorn bestieg, wusste ich noch nicht, dass ich hier auf afrikanischem Boden stand.

(Bild unten: Besteigung des Zinalrothorns von der Cabane Mountet (1968)
Siehe Abbildungsreihe unten: (Abb.1) Wenn zwei mächtige Steinblöcke gegeneinander geschoben werden, so lagern sie nebeneinander. Eine Durchdringung der aneinander grenzenden Oberflächen ist ausgeschlossen. (Abb.2 und 3) Das Serpentinitgestein der Clemgiaschlucht lag deshalb in grosser Tiefe und war von kilometerdicken Erdschichten überlagert, weil es plastisch verformbar (duktil) geworden ist. (Abb.4) In dieser Tiefe wurden ganze «Gesteinspakete» verschoben⁶) . (Abb.5) Durch die beständige Aufwölbung der Erdkruste wurden diese «Gesteinspakete» nach oben gedrückt, während dem - durch Erosion - von oben Gestein abgetragen wurde, bis die «Gesteinspakete» - wie es heute der Fall ist - an die Erdoberfläche gelangten.


Landeskarte (Swisstopo): Die Lage des afrikanischen Kontinentes ist grün gefärbt. Die fünf Pfeilen markieren Orte, an denen grosse Gesteinsmassen entweder vom afrikanischen Kontinent oder vom Ozeanbodengestein des Tethysmeeres gefunden worden sind. Bei dieser Karte geht es mir nicht um Vollständigkeit, sondern darum Distanzen aufzuzeigen, die die Gesteinsmassen "unterirdisch" zurückgelegt haben. Diese Dynamik ist verblüffend.
Hier unten ein Schild am Wegrand in Lichtenstein. Leider wird im Text wiederum von einem "gigantischen Zusammenstoss der Kontinente" gesprochen. Die gezeichneten Profile sind mögliche abstrakte Darstellungen zur Veranschaulichung des Textes.

A 4.4 Zusammenfassung
Wie hoch die Berge vor 40 Millionen Jahren waren, wie damals die Profile ausgeschaut haben, in welcher Tiefe sich Überlagerungen und Verschiebungen vollzogen, weiss niemand genau, weil da keine Messresultate vorliegen.
Die gewaltige, Glarner Hauptüberschiebung, bei der viel älteres Gestein über jüngeres Gestein geschoben wurde, kann man heute vor Ort sehen, in welcher Tiefe aber die Überschiebung genau stattgefunden hat, davon liest man im Text dazu: ".. welche einst tief im Erdinnern entstand"⁵)

(Abb.1) Lage der Überschiebung (gelblich hervorgehoben) (Abb.2) Bild von Elm zu den Tschingelhörner (man sieht das "Martinsloch") (Abb.3) Bild der Tschingelhörner, wie es in Elm in der Ausstellung gezeigt wird (die Berge sind aus Verrucano-Gestein, darunter sind Jurakalke).

(Abb.1) Die Tschingelhörner von Süden gesehen (von Cassons, Flims) (Abb.2) Wer von Schwanden (GL) nach Elm fährt, fährt nach einigen hundert Metern unter einer Brücke durch. Danach gibt es rechts einen Parkplatz. Es lohnt sich diesen Ort zu besichtigen. (Abb.3) Der Ort heisst Lochsiten. Hier steht man unvermittelt vor der Glarnerüberschiebung. Tafeln geben Auskunft.
Im nächsten Kapitel befasse ich mich mit dem Thema der A 5. Abtragung